Der erste Teil von Alexander Krichels heutigem Recitalprogramm breitet in drei Werken den ganzen Kosmos von Frédéric Chopins Kunst aus. Wie bei keinem anderen Klavierkomponisten des 19. Jahrhunderts fließen bei ihm das Denken in Formen und das scheinbar freie sich Entfalten, das virtuos Technische und das pianistisch Poetische, der vermeintlich oberflächliche Salon-Ton und die Tiefe des musikalischen Ausdrucks mit entwaffnender Selbstverständlichkeit ineinander.
Auch wenn der Ire John Field als Begründer der Gattung gilt: Es sind Chopins Nocturnes, die Musikgeschichte geschrieben haben. So breitet sich auch im Des-Dur Nocturne op. 27,2 eine von Chopins unnachahmlichen Melodien über einem wiegenden Begleitpuls aus. Als eine Art Belcanto ohne Worte sind diese oft beschrieben worden, doch klingen sie – wie auch im vorliegenden Fall – weniger nach Opernbühne, sondern über weite Strecken eher wie ein melancholisch nach innen gerichtetes Singen. Die zunächst eher beiläufigen Verzierungen und Stimmverdopplungen steigern sich allerdings im Laufe der drei Durchgänge der Melodie und entwickeln kurzzeitig sogar selbstbewusst-raumgreifende Kraft, bevor sich der Gesang im hohen Klavierregister förmlich auflöst.
Die Ballade, eine weitere Gattung des lyrischen Klavierstücks hat Chopin selbst erfunden. In seiner zweiten Ballade in F-Dur op. 38 kontrastiert er innig-lyrische mit stürmisch vorwärtsdrängenden Passagen. Was zunächst unverbunden nebeneinander steht, greift mehr und mehr ineinander, die Kontraste entpuppen sie sich als Kehrseiten ein und derselben Gefühlswelt. Die erzählerische Energie entlädt sich in der virtuos-erregten Coda ein letztes Mal, ehe Chopin ein resignatives Schlusswort in Moll hinter das eigentlich in Dur stehende Stück stellt.
Die zweite Klaviersonate in b-Moll op. 35 beweist Chopins Fähigkeit, sich auch in größeren Formzusammenhängen auszudrücken. Die Exposition (mit Wiederholung) des eröffnenden Sonatensatzes ist nach der kurzen langsamen Eröffnung klar gegliedert. Die Dramatik des atemlosen ersten Themas wird von einem zunächst choralartig ausgesetzten zweiten abgelöst, das sich zu einer nocturneartigen Melodie verflüssigt und in eine akkordisch-hymnische Schlussgruppe mündet. Der stürmischen Durchführung folgt eine verkürzte, direkt mit dem zweiten Thema einsetzende Reprise. Dem trotzigen Scherzo mit einem melancholischen Walzer als Mittelteil, folgt als langsamer Satz an dritter Stelle der Trauermarsch, für den die Sonate berühmt ist. Dessen gesetztes, kontrolliertes Schreiten steigert sich zu majestätischer Würde. Als Zwischenstück nimmt ein gesangliches Intermezzo in Dur vom Umfang her beinahe denselben Raum ein, die Wiederkehr der Marche funèbre lässt aber keinen Zweifel an der resignierenden Grundhaltung zu. Diese wird im radikal kurzen Presto-Finale auf verstörende Weise bekräftigt, einem desolaten Perpetuum mobile, dessen impressionistisches Zittern ins 20. Jahrhundert vorausblickt.
Welch reifer Komponist und Pianist Sergej Rachmaninow schon wenige Jahre nach dem Ende seiner Studien war, zeigen seine sechs Moments musicaux op. 16 von 1896, deren Titel auf Franz Schuberts gleichnamige Werkgruppe verweist. Der Klaviersatz ist raffiniert-anspruchsvoll, die emotionale Spannweite beeindruckend. In ihrem Wechsel von ruhigeren und bewegteren Charakteren eignen sie sich für eine vollständige zyklische Aufführung, wie wir sie heute erleben. Dem schwärmerisch sich steigernden b-Moll-Andantino folgt ein erregtes Allegretto in es-Moll; dem in gesetztem Tempo voranschreitenden Andante cantabile in h-Moll setzt Rachmaninow ein atemloses Presto in e-Moll gegenüber. Zwei Stücke in Dur beschließen den Reigen und sorgen so für eine gewisse Aufhellung der bis dahin eher düster verhangenen Stimmung: ein aus der Tiefe innig tönendes Adagio sostenuto in Des-Dur und ein triumphal-mitreißendes Maestoso in C-Dur. Dessen pianistisches Feuer lässt schon das Selbstverständnis als Künstler erahnen, das Rachmaninow sich in dieser Phase seiner Karriere erst noch erarbeiten musste.
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Alexander Krichel
„Krichel hat ein untrügliches, klavieristisches Klanggefühl. Das haben bei Weitem nicht alle Pianisten. Aber die ganz großen, die haben es.“
– Helmut Mauró für die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG –
Der Pianist und ECHO Klassik-Preisträger Alexander Krichel ist bekannt für seine fesselnden Interpretationen der anspruchsvollsten Werke der Klavierliteratur – von Beethoven über Liszt bis Rachmaninoff und Prokofiev. 1989 in Hamburg geboren, fasziniert der Tastenvirtuose durch die Gegensätze, die er in sich vereint – in seinem Spiel verbindet er analytische Klarheit mit feurigen Emotionen.
Mit zwei der größten russischen Pianisten der Gegenwart als Lehrer hat die russische Schule Alexander Krichel besonders beeinflusst. Nachdem er Vladimir Krainevs letzter Student in Hannover war, zog es ihn nach London, wo er am Royal College of Music bei Dmitri Alexeev mit höchstem Prädikat abschloss. Die besondere Beziehung des Künstlers zu Sergej Rachmaninoff ist hervorzuheben. Die Klavierkonzerte des russischen Komponisten sind ein wichtiger Teil seines Repertoires. Die Live-Aufnahme des 2. Klavierkonzertes mit den Dresdner Philharmonikern unter Michael Sanderling gehört zusammen mit der Einspielung der drei großen Klavierzyklen von Maurice Ravel zu den Höhepunkten seiner Diskographie, die insgesamt acht Alben umfasst. Nachdem Alexander Krichel mit seinem Album “Enescu & Mussorgsky” seinen Einstand bei Berlin Classics feierte, erschien am 24. März 2023 mit “My Rachmaninoff” die zweite Veröffentlichung in dieser Zusammenarbeit – nur wenige Tage bevor der russische Komponist seinen 150. Geburtstag gefeiert hätte. Jan Brachmann bescheinigte Alexander Krichel dazu in der F.A.Z. „einen zutiefst persönlichen, singenden, nachdenklichen Ton, der anrührt und hinreißt. In diesen Augenblicken finden Klugheit und Mut zusammen.“
Sowohl auf nationalem als auch internationalem Podium ist der Pianist zu Hause: Er gab Konzerte in der Philharmonie Berlin, der Elbphilharmonie Hamburg, der Kölner Philharmonie, im Konzerthaus und Musikverein Wien oder in der Tonhalle Zürich. Ebenso war er in London, New York City, Hongkong, Shanghai, Tokio, Kyoto, St. Petersburg, Mexico City, Oslo, Warschau, Bukarest und vielen weiteren Städten eingeladen. Neben Auftritten mit dem hr-Sinfonieorchester, den Bamberger Symphonikern, der Dresdner Philharmonie, der Deutschen Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz und den Bremer Philharmonikern ist Krichel ebenso ein gern gesehener Gast beim Tokyo Symphony Orchestra, beim Kyoto Symphony Orchestra, der Hong Kong Sinfonietta, den Festival Strings Lucerne, dem Polish Chamber Philharmonic Orchestra, dem St. Petersburg Symphony Orchestra und anderen. Ebenso konzertiert er kammermusikalisch mit dem Shanghai String Quartet, dem Goldmund Quartett sowie dem Amaryllis Quartett.
Während des langen Corona-Lockdowns fand der Künstler mit ungewöhnlichen Aktionen und Streaming-Konzerten, wie dem weltweit ersten Klassik-Konzert in einem Autokino oder einem Videotagebuch aus einer Hongkonger Hotelsuite, in der er eine 14-tägige Quarantäne vor einem Konzert einhalten musste, den Weg zu seinem Publikum.
Alexander Krichel ist Mitbegründer und künstlerischer Leiter des Festivals „Kultur Rockt“ sowie künstlerischer Leiter der Konzertreihe „Kammermusik am Hochrhein“. Seit 2018 ist er außerdem Jurymitglied des Fanny Mendelssohn Förderpreises.
Abseits des Klaviers begeistert sich Alexander Krichel für Darstellende und Bildende Kunst sowie für Fremdsprachen. Er engagiert sich in Projekten, die Kindern und Jugendlichen Zugang zur klassischen Musik verschaffen, und setzt sich in der Hospizarbeit ein.
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